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  • AutorenbildAndreas Eich

Das englische Gesundheitssystem aus Patientensicht

Wie im letzten Post beschreiben, ist das öffentliche Gesundheitssystem in England (NHS) spätestens in seit 2010 kaputt gespart worden. Doch wie stellt sich der Zustand des englischen NHS aus der Sicht eines Patienten dar? Dazu kann ich aus meinem eigenen Erfahrungsschatz berichten. Wie in einem früheren Post beschrieben, ist die Luft in London legendär schlecht. Anders als von einigen versichert, verschwanden meine gesundheitlichen Probleme aufgrund der Luftverschmutzung mit der Zeit nicht. (Brennende Bronchien, Müdigkeit…) Vielleicht steckte doch mehr dahinter? Um der Frage nachzugehen, versuchte ich einen Termin in einer GP-Praxis zu vereinbaren. GP steht für general practitioner, Allgemeinarzt.



Mein erster Kontakt mit dem NHS war überaus positiv! Wobei die Beurteilung stark von meinen Erfahrungen in den Niederlanden geprägt war. Dort sind Ärzte vor allem damit beschäftigt, ihre Patienten NICHT zu behandeln.

Meldete ich mich bei einem niederländischen Allgemeinarzt, wurde ich zunächst gefragt ob ich blutete oder Fieber habe, was meist nicht zutraf. Dann sollte ich mich erst wieder in ein paar Tagen melden, vielleicht lösten sich die Beschwerden ja von selbst. Eine halbwegs verständliche Maßnahme. Doch selbst bei Blutungen oder Fieber wurde nach kurzem Zögern gebeten, noch ein paar Tage mit der Terminabsprache zu warten.

In Großbritannien war dagegen gleich der erste Versuch, ein Gespräch zu ergattern, von Erfolg gekrönt. Und der Arzt hörte mir zu, überlegte ernsthaft, wie meine Beschwerden zu erklären seien und ordnete eine Blutuntersuchung an. In den nächsten Tagen besuchte ich eine weitere Praxis zur Blutabnahme… Und damit endeten die guten Erfahrungen.

Ich wartete auf eine Rückmeldung, vergeblich. Meine Frau, selbst ein GP, erklärte mir, das Ausbleiben sei nicht ungewöhnlich. Die Verwaltung sei mehr oder weniger inkompetent. Laborergebnisse gingen irgendwo auf dem Weg verloren oder es wird vergessen, Nachfolgetermine auszumachen.

Mir blieb nichts anderes übrig, als regelmäßig in der Praxis anzurufen, um an meinen Fall zu erinnern. Es dauerte mehrere Wochen, bis ich endlich zu einem weiteren Termin erscheinen durfte. Den hatte ich selbst ausgemacht. Die Praxis hatte sich natürlich nach Eingang der Ergebnisse nicht gemeldet.

Beim zweiten Gespräch saß mir ein anderer Arzt gegenüber. In Großbritannien sind Hausarztpraxen wesentlich größer als bei uns, oft kümmert sich eine Handvoll GPs um die Patienten. Zum regen Wechsel der Ärzte tragen auch die verschiedenen Anstellungsverhältnisse bei. Es gibt festangestellte GPs und freie Mitarbeiter, sogenannte Locums.

Das Locum-System ist an sich keine schlechte Idee. Fällt einer der regulären GPs aus, ob durch Krankheit, Urlaub oder Elternzeit, kann ein Freelancer dessen Schichten übernehmen. In London gehören Locum-Ärzte jedoch ganz selbstverständlich zum regelmäßigen Hausarzt-Betrieb. Viele Stellen sind dauerhaft von wechselnden Freelancern ausgefüllt. Warum sie auf eine sichere Festanstellung verzichten? Die Arbeitszeiten sind flexibler und pro Stunde kann sich der Nettolohn aufgrund höherer Bezahlung und anderer Besteuerung verdoppeln.

Falls sie jemals von deutschen Ärzten gehört haben, die am Wochenende nach Großbritannien jetten, um mit wenigen Arbeitsstunden so viel zu verdienen wie unter der Woche in Deutschland, dann arbeiten sie als Locum.

Warum ich ihnen all das erzähle? Kurz gesagt, alle GPs, denen ich in den Folgemonaten begegnete, sah ich nur ein einziges Mal. Leider. Niemand war mit mir oder meinem Problem vertraut. Zwar hatten sie immer meine Krankenakte vor Augen, aber die ersetzt nicht den Kontakt mit dem Patienten.

Nun ja, Arzt Nummer zwei erzählte mir jedenfalls, dass meine Blutwerte fantastisch sind. Er schickte mich zum Röntgen, was ein paar Wochen später in einem Krankenhaus erledigt wurde. Bis ich das Ergebnis erfuhr, vergingen weitere Wochen.

Arzt Nummer drei war nicht nur von meinen perfekten Röntgen-Lungen beeindruckt, sondern wunderte sich über die Anordnungen seiner Vorgänger. Für ihn war die Diagnose klar:

Es brennt, wenn sie mit der U-Bahn fahren?

Ja.

Wo?

Ungefähr hier und hier.

Ah, Sodbrennen!

Wie bitte?!

SODBRENNEN! Ich verschreibe ihnen Säureblocker, dann sehen wir weiter.

???

Auf Wiedersehen.

Ärztin Nummer vier wunderte sich zurecht über die Diagnose von Arzt Nummer drei. Außerdem waren in ihren Augen meine Blutwerte nicht so toll wie Arzt Nummer zwei meinte. Allerdings sei die Untersuchung schon einige Zeit her, weitere Schritte sollten nach einer zweiten Blutanalyse diskutiert werden.

Wochen später, nach vielen Anrufen, saß ich Arzt Nummer fünf gegenüber. In seinen Augen waren meine Blutwerte wieder top. Wegen des Brennens sollte ich vielleicht einen HNO-Arzt aufsuchen, er werde mich überweisen. Die sind auf der Insel meist in einem Krankenhaus ansässig. Bis zum Termin vergingen, na klar, mehrere Wochen.

Der Spezialist stellte sofort meine deutsche Abstammung fest und erzählte mir erst mal von seiner Zeit als Militär-Arzt in der norddeutschen Tiefebene. Meinen Hals überprüfte er ebenfalls, die Untersuchung dauerte allerdings keine Sekunde. Immerhin war er der erste Doktor, der selbst eine Untersuchung durchführte.

Der Spezialist diagnostizierte eine Reizung des Rachens und vermutete direkt, dass ich relativ nah am Stadtzentrum wohne. Die Art der Reizung sei typisch für Londoner, meinte er, und riet, weiter aus der Stadt zu ziehen. Lachend fügte er an am besten nach Deutschland, dort sei es auch viel schöner. Weiter könne er nichts für mich tun, die restlichen Symptome seien ihm rätselhaft. Er empfahl eine Überweisung zu einem Neurologen.

Zur Abwechslung funktionierte das medizinische Informationssystem. Innerhalb von zwei Wochen traf ein Brief mit einer Terminbestätigung ein. Die Wartezeit betrug jedoch acht Monate. Dann sprach ich mit einer ausgesprochen freundlichen Ärztin. Am Telefon, nicht im Krankenhaus, schließlich hatte die Corona-Pandemiedas Land fest im Griff. Die zweite Spezialistin hörte mir nicht nur genau zu und fragte detailliert nach, sondern erzählte begeistert von ihrer deutschen Verwandtschaft. Davon abgesehen vermutete sie bei mir eine seltene Allergie. Sie werde einen Brief an meine GP-Praxis schicken, und eine entsprechende Überweisung empfehlen.

Außerdem meinte sie, ich hätte eventuell Glück. Wegen der Pandemie sei das Gesundheitssystem zwar an vielen Stellen überlastet, in manchen Teilgebieten sei jedoch das Gegenteil der Fall. Vielleicht würde ich einen Termin in zwei Monaten erhalten, statt wie üblich, sechs warten zu müssen.

Mit den zwei Monaten lag sie gar nicht falsch, zumindest was die Übermittlung einer Kopie ihres Berichts an mich betraf. Bei meiner Praxis kam leider kein Schreiben an, oder es wurde dort verschlampt. Wieder folgten Telefonate, doch auf eine Überweisung wartete ich bis zu unserem Umzug vergeblich.

Meine Erfahrung mit dem NHS kann ich wie folgt zusammenfassen: Viele Briefe, überhaupt viel Bürokratie, viel Aufwand meinerseits, dafür wenig bis gar kein Nutzen. So wie es sich für eine ordentliche Planwirtschaft gehört, siehe Ursprung des NHS. Sie dreht sich vor allem um sich selbst.

Ende 2019 war ich übrigens auf Elternbesuch in Deutschland. Wir redeten über dies und das. Und nachdem ich von meinen Beschwerden erzählte, machte meine Mutter gleich einen Termin bei ihrer HNO-Ärztin aus. Zwei Tage später überprüfte diese meinen Hals. Außer einer Reizung war von ihrer Seite in der Kürze auch nichts festzustellen, aber zumindest könne sie etwas verschreiben, um die Reizung zu lindern. Eine Mixtur zur Inhalation und Beruhigung des Gewebes, sowie Tabletten, um den Rachen zu schützen. Und was soll ich sagen, die Mittel halfen mir ungemein.

Bei all meinen Erzählungen können sie gerne skeptisch bleiben. Ist das System wirklich so ineffizient wie beschrieben? Die Mitarbeiter so inkompetent? Vielleicht bin ich nur an eine äußerst schlechtgeführte Praxis geraten oder hatte als Ausländer mit einer kulturellen Barriere zu kämpfen, trotz der Unterstützung meiner Frau [1].

Nun, vielleicht war meine Praxis tatsächlich schlechter organsiert als andere, doch im Großen und Ganzen stimmt das Bild, wie ein paar weitere Beispiele verdeutlichen. Kurz nach meinem Umzug hatte meine Frau mit einer hartnäckigen Infektion der Atemwege zu kämpfen. Wochenlang spuckte sie gelblich-grünen Schleim.

Kollegen verschrieben Antibiotika, doch die halfen nicht. Eine Röntgenaufnahme führte ebenfalls zu keiner klaren Diagnose. Die ganze Prozedur dauerte (mal wieder) Wochen. Schließlich wurde sie für eine CT-Untersuchung ans Krankenhaus verwiesen. Meine Frau wollte nicht bis zu den Aufnahmen warten und bat vehement und mit Beziehungen, um andere Antibiotika. Die schlugen an, ihre Beschwerden verschwanden.

Und das CT? Ein halbes Jahr später erhielt sie einen Brief mit dem versprochenen Termin, der wiederum einen Monat später angesetzt war. Sie versuchte ihn abzusagen, aber das klappte nicht. Um größere Verwerfungen zu vermeiden, erschien sie zur Untersuchung.

Zum Glück trug meine Frau aufgrund der Verzögerungen keinen bleibenden Schaden davon. Diesmal. Vor ein paar Jahren dagegen verletzte sie sich beim Sport am Knie. Eigentlich eine harmlose Sache, wenn sie direkt behandelt worden wäre. Doch sowohl Diagnose als auch Therapie ließen wieder wochenlang auf sich warten. Und als letztere begann, war das Gewebe bereits vernarbt.

Im Alltag verursacht der Schaden keine großen Probleme. Ich würde fast sagen, das Gegenteil ist der Fall. Nach ein paar Stunden Shopping zwingt das Knie zum Abbruch der Tour, mit positivem Effekt auf ihren Geldbeutel.

Doch meine bessere Hälfte war mal eine passionierte Tänzerin und begeistere Bergwanderin. Heute können wir ihre Hobbies nur eingeschränkt verfolgen. Wegen einer vollkommen unnötigen Verzögerung der Behandlung.

Mit ihren Problemen ist meine Frau nicht alleine. Wer sich mit offenen Augen durch London bewegt, dem fällt der hohe Anteil an Passanten mit Geh-Problemen auf, in allen Altersgruppen wird gehumpelt… Was die Verzögerungen für Folgen bei anderen Krankheitsbildern haben, will ich mir gar nicht ausmalen.


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[1] Leider kann man nur Praxen besuchen, die für die eigene Wohngegend zuständig sind. Die meiner besseren Hälfte war es nicht. Das hätte vieles erleichtert.

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