Während ich diesen Beitrag für die Veröffentlichung vorbereite, geht es in der britischen Politik mal wieder hoch her. Auslöser ist die Illegal Immigration Bill der Regierung, mit der jeder Ausländer, der nicht offizielle Routen für die Einreise wählt, interniert und wieder ausgewiesen werden soll. Faktisch würde es mit der Gesetzesvorlage nahezu unmöglich im Vereinigten Königreich Asyl zu beantragen. So wie der Text vorliegt steht eher wohl im Konflikt mit internationalen Abkommen, von der Menschenrechtskonvention ganz zu schweigen.
Vorgestellt wurde die Vorlage mit viel Brimborium: Suella Braverman, aktuelle Innenministerin, sprach im Parlament von über 100 Millionen Menschen die unter den bisherigen „laschen“ Bestimmungen in Großbritannien Asyl beantragen könnten. Premier Rishi Sunak gab eine Anspache von einem Pult aus, auf dem „STOP THE BOATS“ geschrieben stand. Kleine Schiffe, die von Frankreich aus den Ärmelkanal überqueren, sind die Haupteinreiseroute von Asylsuchenden.
Im Gegensatz zu der Drohkulisse von 100 Millionen Menschen, die bald nach Großbritannien reisen könnten, kommen pro Jahr nur ein paar 10.000 über diese Route auf die Insel, um Schutz zu suchen.
Die ganze Kampagne ist nicht nur unmenschlich, sondern eine Farce, wird die Vorlage doch kaum vor der nächsten Wahl zur Abstimmung kommen und Klagen vor internationalen juristischen Instanzen nach sich ziehen, denen das Gesetz kaum standhalten wird. Meiner Meinung nach haben die regierenden Konservativen diesen Schachzug nur gewählt, um die eigenen Reihen zu schießen und von anderen Problemen wie der Krise bei den Lebenshaltungskosten, dem Zustand des Gesundheitssystems, oder der Rezession, abzulenken. Und man kann nur festhalten, ging es den Tories, um Ablenkung waren sie erfolgreich!
Abgesehen vom skandalösen Inhalt der Gesetzesvorlage, ist Einwanderung ein Thema mit dem man auf der Insel immer punkten kann. Wie ich selbst vernehmen konnte, siehe letzter Beitrag, war sie auch einer der Hauptgründe, warum die von mir Befragten für einen Austritt aus der EU gestimmt haben. Ein Eindruck den praktische alle Analysen zum Ausgang des Referendums bestätigten.
Leider ging bei meinen Interviewpartnern das Wissen über Einwanderung nicht über Hörensagen hinaus. Und ein genauerer Blick auf die Fakten offenbart, dass die Weltsicht der Brexiteers - die EU ist alleine Schuld an der Einwanderungswelle, die Zugezogenen stehlen wahlweise unsere Jobs oder lassen es sich in unserem Sozialstaat gut gehen, nach dem Austritt wird es keine Einwanderung mehr geben und alles wird gut – ebenfalls kaum der Realität entsprach.
Aber von Anfang an. Großbritannien ist zweifellos ein Einwanderungsland, und der Beitritt der osteuropäischen Länder zur EU hatte einen gehörigen Einfluss auf die Netto-Zuwanderung. Lag sie 2003 bei etwa 180.000, sprang sie in den 12 Monaten nach der Erweiterung auf ca. 320.000 [1]. In den folgenden Jahren schwankte die Zahl bis auf wenige Extremwerte zwischen 200.000 und 300.000. Ein dauerhafter und signifikanter Anstieg gegenüber der Zeit vor der Erweiterung.
In den 12 Monaten vor dem Referendum lag der Wert bei knapp über 300.000, um bis Mitte 2019 wieder unter diese Schwelle zu fallen, meist gar unter 250.000 [2]. Der Rückgang der allgemeinen Einwanderungszahlen hatte viel mit dem Ausgang des Referendums zu tun. In den drei Jahren davor wanderten aus der EU knapp 200.000 Menschen pro Jahr ein. Danach sackte die Zahl ab, um sich ab Mitte 2018 zu stabilisieren, auf etwa 50-60.000. Der Zuzug aus den östlichen Ländern der Union kam bis Ende 2019 ganz zum Erliegen [2].
Vielleicht ist ihnen aufgefallen, dass der Rückgang der EU-Einwanderung viel stärker ausfiel als insgesamt. Das lag an einem verstärkten Zuzug aus anderen Weltregionen. Ihre Zahl verdoppelte sich nach Ende des Referendums fast und erreichte Ende 2019 über 280.000 Einwanderer. Sie stammten zu etwa 80 Prozent aus Asien [2]. Eine merkwürdige Entwicklung für ein Land, in dem große Teile der Bevölkerung Einwanderung kritisch gegenüberstehen. Denn über diesen Zuwandererstrom hat die britische Regierung volle Kontrolle.
Auch die Einwanderung aus Osteuropa nach 2004 war nicht alleine Folge der europäischen Regeln zur Personenfreizügigkeit. Die Verantwortlichen in der EU hatten eine mögliche Massenbewegung aus den neuen Mitgliedsländern Richtung Westen antizipiert. Daher durfte jedes alte Land der Union seinen Arbeitsmarkt für maximal sieben Jahre gegenüber den neuen EU-Bürgern abschotten. Unter anderem hoffte man, die hinzugekommenen Länder könnten in der Zwischenzeit so sehr vom gemeinsamen Markt und Fördergeldern profitieren, dass eine Völkerwanderung nach Öffnung der westlichen Märkte ausbleibt.
Deutschland schottete seinen Arbeitsmarkt für die gesamten sieben Jahre ab, auch gegenüber Rumänien und Bulgarien, nach deren Beitritt im Jahr 2007. Frankreich verfuhr ähnlich. Eine unkontrollierte Einwanderungswelle blieb aus.
Großbritannien öffnete seine Grenzen dagegen sofort und wurde im Übermaß zum Ziel von Menschen aus Osteuropa. Hatten die britischen Verantwortlichen die Konsequenzen der EU-Erweiterung unterschätzt? Dazu möchte ich Tony Blair zitieren, welcher zu jener Zeit britischer Premierminister war. In der wunderbaren Brexit-Dokumentation „The Clock is Ticking“ erklärte er: „Oh, we got the numbers completely wrong. We thought there would be tens of thousands that turned out to be hundreds of thousands of people coming.” [3]. Ja, sie hatten die Konsequenzen unterschätzt.
Die Personenfreizügigkeit der EU war eine der Gründe für die Einwanderungswelle in den letzten Jahren. Doch eine mindestens ebenso große Rolle spielten die Entscheidungen der verschiedenen britischen Regierungen. Selbst nach der Fehleinschätzung der Blair-Regierung, hätte die Gesamteinwanderung reduziert werden können. Durch eine Abschottung des eigenen Marktes nach den Beitritten Bulgariens und Rumäniens drei Jahre später, oder durch eine stärkere Begrenzung des Zuzugs aus Drittstaaten. Warum schritten die britischen Regierungen nicht ein?
Hier hilft ein Blick auf die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt. An der von vielen vorgebrachten These, die Einwanderer würden den Einheimischen die Jobs wegnehmen und auf Staatskosten leben, ist nicht viel dran. So fiel die Arbeitslosenrate seit 1992 bis auf wenige Ausnahmen kontinuierlich, von 10,5 Prozent ging es hinunter auf 3,8 Prozent im Herbst 2019, den niedrigsten Wert seit den 1970ern [4].
Und vor allem EU-Einwanderer zahlen ordentlich Beiträge, anstatt sie abzugreifen. Laut einer Studie von Oxford Economics hatten sie 2016/17 jeweils 2.300 GBP mehr zu den jährlichen Staatseinnahmen beigetragen als der Durchschnitt [5].
Trotzdem kann ich den Widerstand vieler Briten gegen die Zuzügler nachvollziehen. Sie dürften ihren Teil zu den Problemen beigetragen haben, die ich zuvor beschrieb, etwa bei der Steigerung der Mieten und anderer Lebenshaltungskosten. Und die Löhne werden sie kaum in die Höhe getrieben haben. Der Konkurrenzkampf innerhalb der Gesellschaft wurde größer.
Doch viele Teile der Gesellschaft profitierten von der Einwanderung. Vermieter, Hausbesitzer und -verkäufer, dazu Baufirmen und alle Unternehmen, die die Bevölkerung mit Gütern versorgen. Zuwanderer, besonders jene, die vom Arbeitsmarkt aufgesogen werden und ordentlich schuften, bedeuten Wirtschaftswachstum.
Schließlich profitierte der Staat, wie man an den Beiträgen der EU-Einwanderer sehen kann. Ohne den Zuzug wäre das Schuldenproblem Großbritanniens um einiges größer. Bezogen auf die Staatsfinanzen benötigt das Land Einwanderer so dringend wie ein Junkie den nächsten Schuss. Und nie war es genug, bis es zu viel wurde.
Mit dem EU-Austritt steht jede zukünftige britische Regierung vor einem Dilemma. Den schwarzen Peter für die Einwanderung können sie nicht mehr der Union zuschieben. Entweder halten sie die Grenzen offen, um das Wirtschaftswachstum anzutreiben und den Schuldenzuwachs einzuschränken, und riskieren so den Unmut von Teilen der Bevölkerung, insbesondere von jenen Briten, die sich an den vielen arabischen, indischen oder afrikanischen Einwanderern stören. Ihr Anteil wird eher zunehmen.
Oder die Regierungen begrenzen die Einwanderung, würgen das Wachstum ab und vergrößern die Schuldenkrise. Auch hier wäre Unmut in der Bevölkerung die Folge. Notgedrungen gäbe es weitere Sparprogramme, und damit noch weniger Unterstützung von Armen, Alten, Kindern oder jungen Erwachsenen, sowie noch weniger Mittel, um dem Verfall der Infrastruktur entgegenzuwirken. Schöne neue Brexit-Welt. (Sie ist bereits Realität.)
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[4] Unemployment rate UK
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