In Posts über den Fußball und wie dieser die Gesellschaft spiegelt (und wie doch nicht), habe ich mal von Großbritannien gesprochen und mal von England. Ehrlich gesagt ging es wild hin und her. Und bevor sie jetzt vermuten ich kenne den Unterschied nicht, der ist mir wohlbekannt. Tatsächlich wechseln die Briten selbst ständig selbst zwischen Beschreibungen. Manchmal willkürlich, manchmal weil sie es genau so meinen. Tatsächlich ist es mit der Unterscheidung oft kompliziert. Leider insbesondere bei den Themen Politik und Gesundheitssystem denen ich mich in zukünftigen Posts genauer widmen werde. Bevor es auch in diesen drunter und drüber geht, erkläre ich lieber einmal genau wo die Grenzen verlaufen und warum es so kompliziert ist…. Zumindest werde ich es versuchen.
Warum Großbritannien und England oft gleichgesetzt werden, ist einfach zu erklären: England ist mit Abstand der größte und bevölkerungsreichte Teil der Union. So leben etwa fast 80% der Briten eben dort. Da kann man sich eine Unterscheidung oft sparen. Zumindest wenn man das Königreich von außen betrachtet oder nur mit Engländern spricht. Ansonsten…
Aber fangen wir mit dem grundlegendsten an. Das Vereinigte Königreich besteht aus den Ländern England, Wales, Schottland und Nordirland. Oft verwende ich Großbritannien als Synonym für das Land, doch das ist eigentlich falsch. So wird nur die Hauptinsel ohne Nordirland bezeichnet. Zum Ärger der Nordiren begehen jedoch viele Briten den gleichen Fehler. Selbst die Athleten bei Olympia firmieren als Team GB und nicht Team UK.
Das Vereinigte Königreich ist zentralistisch ausgerichtet. Trotzdem verfügen die Länder über eigene Regierungen und eigene staatliche Einrichtungen. Nur England hat keine eigene Regierung und wird vom britischen Parlament und der Zentralregierung verwaltet.
Die merkwürdigen Strukturen sind der britischen Geschichte geschuldet. Früher oder später gerieten die drei kleineren Länder unter englische Herrschaft. Die Bindung des keltischen Wales an England ist die engste, da es bereits 1282 von Edward I. erobert und seinem Reich einverleibt wurde. Noch heute tragen männliche Thronfolger den Titel Prince of Wales.
Erste Teile Irlands gerieten schon im 12. Jahrhundert unter englische Kontrolle, jedoch nicht dauerhaft. Erst im 16. Jahrhundert baute die englische Krone ihre Herrschaft aus. Und Heinrich VIII. erklärte sich 1541 zum König von Irland. Die Insel wurde aber nicht Teil des englischen Staates.
Auch Schottland fiel im 12. Jahrhundert an die englische Krone. Wie im Fall von Irland ging die Kontrolle jedoch wieder verloren. Dann starb 1603 Queen Elisabeth I. von England ohne eigenen Thronerben. Der nächste Verwandte war King James VI. von Schottland. Die Königshäuser wurden vereinigt. Daran änderte sich auch nach den Wirren des Bürgerkrieges und der englischen Republik nichts.
1706 verbanden sich England und Schottland zu einem Staat, dem Kingdom of Great Britain. Englische und schottische Krone gingen in der britischen auf. 1800 wurde Irland in die Union aufgenommen. Der Name des Staates lautete nun United Kingdom of Great Britain and Ireland und wurde zentral von Westminster aus regiert.
Trotz der Union blieb das jeweilige Nationalgefühl erhalten, gab es doch bedeutende Alleinstellungsmerkmale wie die keltische Kultur und Sprache in Wales und Irland oder die vorherrschende katholische Religion in Irland und Schottland.
Die Herrschaft aus dem englisch, protestantischen Westminster wurde mal mehr, mal weniger kritisch gesehen. Besonders die Iren strebten nach mehr Eigenverantwortung, mit Erfolg. 1914 wurde vom britischen Parlament der Government of Ireland Act beschlossen. Er sah die Schaffung eines irischen Parlaments und eine begrenzte Selbstverwaltung vor. Die Umsetzung verschob sich jedoch durch den ersten Weltkrieg. In der Zeit gewann Sinn Féin, die Partei der irisch-republikanischen Separatisten an Einfluss. Und die Irish Republican Army begann einen Guerilla-Krieg, um die Eigenständigkeit der Insel zu erzwingen.
Die Zentrale in London verlor die Unterstützung eines Großteils der irischen Bevölkerung, und Irland erlangte 1922 seine Unabhängigkeit. Nur der protestantisch dominierte Norden verblieb in der Union. Dort wurde ein Parlament installiert, bis es 1972 aufgrund der Destabilisierung des Landes aufgelöst wurde.
Nach dem ersten Weltkrieg gab es mehrmals Initiativen, die politischen Strukturen des Vereinigten Königreiches weiter zu dezentralisieren und Kompetenzen in die Hände nationaler Parlamente der verbliebenen nichtenglischen Länder zu legen. Sie scheiterten jedoch unter anderem an dem Dilemma, dass englische Politik weiterhin von einem britischen Parlament bestimmt würde, jedoch etwa schottische Politik von einem schottischen Parlament.
1997 gewann Labour die Parlamentswahlen auch mit dem Versprechen, die Dezentralisierung voranzutreiben. Nach mehreren positiven Referenden erhielten Wales, Schottland und Nordirland eigene Parlamente und Regierungen, deren Verantwortungsbereiche in den Folgejahren ausgebaut wurden.
Auch für England sollten Kompetenzen dezentralisiert werden, auf ein separates Parlament wartet man jedoch bis heute, trotz mehrerer Initiativen. Stattdessen wurden regionale Versammlungen eingeführt und wieder abgeschafft. Die Mitglieder waren außerdem nicht direkt gewählt, sondern von lokalen Institutionen ernannt.
Nur die Region London erhielt mit der Greater London Authority eine Verwaltung, die eine direkt gewählte legislative Versammlung enthielt und bis heute besteht. Auf weitere Pläne zur Dezentralisierung wurde nach einem negativen Referendum in Nordost-England abgesehen.
Damit gestaltet sich die Lage im Vereinigten Königreich heute wie folgt. Noch immer liegt sämtliche Macht bei der Zentralregierung in Westminster. Von dort wird sie teilweise auf die Parlamente der Länder Schottlands, Nordirlands und Wales, sowie an die Greater London Authority übertragen. Themenfelder und Kompetenzen, die nicht explizit der Zentrale vorbehalten sind, allen voran Außen- und Sicherheitspolitik, können von den Ländern übernommen werden, neben Bildung und Gesundheit etwa Justiz und Innenpolitik.
Die übertragene Macht kann den Ländern jedoch wieder entzogen werden. So war die Auflösung des Parlaments in Nordirland in den 1970ern kein singuläres Ereignis. Auf Weisung aus Westminster war die Northern Ireland Assembly auch 2002 bis 2007 und 2017 bis 2020 ausgesetzt.
Mich erinnern die Machtverhältnisse zwischen Zentrale und den Ländern ein wenig an das politische System Indiens nach dem ersten Weltkrieg. Auch dort galt nach innen größtenteils Eigenverantwortung, doch das britische Parlament hatte das letzte Wort. Kein Wunder, dass sich bei den eher kolonialen Verwaltungsstrukturen manche Schotten, Nordiren und Waliser immer noch von England bevormundet fühlen.
Die Abhängigkeit der einzelnen Länder spiegelt sich auch in ihrer Finanzierung wider. Die Budgets werden praktisch von der Zentrale vorgegeben und finanziert. Die Beiträge aus London werden nach einer vorgegebenen Formel berechnet, der u.a. die Bevölkerungsgröße, sowie die Ausgaben vergleichbarer englisch-britischer Institutionen zugrunde liegen. Die Länder können zwar eigene Steuern erheben, doch die Einnahmen werden mit den Gaben der Zentrale verrechnet. Sie stehen nicht zusätzlich zur Verfügung.
Zumindest können die Landesregierungen ihre Mittel selbstständig an die einzelnen Ressorts verteilen. Damit haben sie im kleinen Rahmen die Möglichkeit andere Schwerpunkte zu setzen als die britische Regierung für England, etwa mit höheren Ausgaben für Bildung.
Legislative und Bürokratie der Länder haben daher eine überraschend hohe Eigenständigkeit, teilweise eine größere als die Bundesländer im föderativen Deutschland. So verfügt jedes Land nicht nur über einen eigenen Haushaltsposten für Gesundheit, sondern auch über ein eigenes Gesundheitssystem.
Die Trennung kann verwirrend sein. Oft wird in der Presse das Budget des Gesundheitssystems erwähnt, etwa die 123 Mrd. GBP während der Brexit-Kampagne. Dabei handelt es sich nur um die Mittel der britischen Regierung für die laufenden Ausgaben des englischen Systems.
Die Kompetenztrennung im Gesundheitsbereich geht so weit, dass die einzelnen Länder während der Corona-Pandemie nicht nur ihre eigene Lockdown-Politik verfolgten, wie in der föderalen Bundesrepublik, sondern auch ihre eigenen Apps zur Nachverfolgung entwickelten.
Wie gesagt es ist kompliziert, aber jetzt wissen sie wenigstens warum.
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