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  • AutorenbildAndreas Eich

Warum britische Regierungen meist keine Mehrheit bei den Wählern haben & die Konsequenzen

Die Briten dürfen stolz darauf sein in ihrer Geschichte viele demokratische Errungenschaften erkämpft zu haben, dir wir heute als selbstverständlich erachten. Eine, auf die ich in meinen vorherigen Posts immer wieder hingewiesen habe, ist die Verteilung der gesetzgebenden Macht auf verschiedene Institutionen, um den Austausch zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu fördern. Die Aufteilung ist auch ein Mechanismus, um eine „Diktatur der Mehrheit“ zu verhindern (ein anderer ist etwa eine Verfassung mit besonders geschützten Gesetzten): auch Mehrheiten dürfen nicht grenzenlos die bestimmen und die Rechte und Bedürfnisse von Minderheiten ignorieren. Typische Beispiele für eine Aufteilung der Legislative sind in Deutschland die Verteilung auf Bundestag und Bundesrat oder in den USA die Aufteilung auf Repräsentantenhaus, Senat und Präsident.


Vergitterter Eingang zu Downing Street, dem Sitz der britischen Premierminister


Die Vertreter in allen genannten Institutionen sind demokratisch gewählt. Und alle Aufteilungen beruhen auf jener die nach der Glorious Revolution 1688/89 in England herrschte, als die legislative Macht zwischen König, House of Lords und House of Commons aufgeteilt wurde. Hier waren natürlich nicht alle Vertreter gewählt. Großbritannien ging bei der Demokratisierung seinen eigenen Weg und entmachtete im Laufe der Jahrhunderte die nicht gewählten Institutionen. Heute verfügt effektiv nur noch das House of Commons über die gesetzgebende Macht. Dazu ist die Regierung gleichgeschaltet.

All dies widerspricht modernen demokratischen Prinzipen. Doch wirklich bedenklich wird der Aufbau durch das immer noch vorhandene Mehrheitswahlsystem und die heutige britische Parteienlandschaft. Als Resultat konnten die meisten Regierungen der letzten Jahrzehnte schalten und walten, ohne auf die Belange anderer Interessensgruppen eingehen zu müssen. Und das, obwohl sie noch nicht mal über eine Mehrheit in der Bevölkerung verfügten. Schließlich müssen heute selbst große Parteien darum kämpfen nicht über Jahre oder gar Jahrzehnte in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden, mit verehrenden Folgen. Aber was meine ich genau?

Fangen wir mit dem Wahlsystem an. Alle Abgeordneten im House of Commons werden durch eine direkte Wahl in Wahlkreisen bestimmt. Bei einem reinen Mehrheitswahlrecht werden die Stimmen der unterlegenen Kandidaten nicht im Parlament berücksichtigt. Folglich schadet sich ein politisches Lager selbst, wenn es von mehreren Parteien repräsentiert wird. Ihre Kandidaten nehmen sich gegenseitig die Stimmen weg und ermöglichen die Wahl eines Kandidaten mit gegensätzlichen Ansichten. Eine Fokussierung auf zwei Parteien macht Sinn, wie etwa in den USA mit Demokraten und Republikanern. Weniger Stimmen werden weggeworfen, die Sitzverteilung im Parlament entspricht eher dem Abstimmungsverhalten der Bürger. Natürlich geht das politische Spektrum im Volk weit über zwei Meinungen hinaus. Der Interessenausgleich zwischen Gruppen verlagert sich vom Parlament in die Parteien. Deren Flügel müssen sich auf gemeinsame Standpunkte einigen.

Auch in Großbritannien wurde die politische Landschaft nach dem zweiten Weltkrieg von zwei Parteien dominiert, den Konservativen und Labour. In den 1950er Jahren erhielten beide Parteien zusammen über 95 Prozent der Stimmen. Ab den 60ern setzte jedoch eine Erosion ihrer Anteile ein.

2005 kamen Tories und Labour nur noch auf knapp 67 Prozent der Stimmen. Der Verlust geht zum Teil auf das Erstarken regionaler Parteien wie der Scottish National Party (SNP) oder der Democratic Unionist Party in Nordirland zurück, vor allem jedoch auf Gewinne der dritten nationalen Kraft den Liberal Democrats (LibDems). 2005 erhielten die knapp 22 Prozent der Stimmen. Im Unterhaus stellten die LibDems aber gerade mal 9,6 Prozent der Abgeordneten, bei der SNP waren es 2,2 zu 0,9 Prozent, bei DUP 0,9 zu 1,4. Insgesamt waren die kleineren Parteien stark unterrepräsentiert. Als Ergebnis genügten Labour 35,2 Prozent der Stimmen, um 55 Prozent der Abgeordneten zu stellen, eine Alleinregierung war komfortabel möglich.

Das Missverhältnis zwischen Sitzverteilung und Wählerstimmen 2005 war ein Extremfall, aber Alleinregierungen ohne Mehrheit ist Aufgrund der Zersplitterung des Parteiensystems die Regel. Von 21 Regierungen zwischen 1945 und 2023, wurden 20 von weniger als 50 Prozent der Bevölkerung gewählt, 13 gar von weniger als 45 Prozent und 6 von weniger als 40 Prozent. In Großbritannien reiht sich eine “Diktatur der Minderheit“ an die nächste. Zum Vergleich, in Deutschland wurden im genannten Zeitraum ebenfalls 21 Regierungen gebildet, nur 6 erhielten weniger als 50 Prozent der Wählerstimmen, keine weniger als 45 Prozent[1]. Und die legislative Macht ist geteilt.

Spreche ich mit unseren britischen Freunden über das Missverhältnis zwischen Stimmen- und Sitzverteilung, ist die Meinung zweigeteilt. Einige stimmen mir zu, das politische System krankt gewaltig, nicht nur an dieser Stelle. Der Großteil versteht meine Empörung jedoch nicht. Das Mehrheitswahlrecht gibt es doch schon ewig, die britischen Institutionen sind weltberühmt und oft kopiert. Wenn die Entscheidungen einer Regierung nicht ok sind, wird sie die nächste wieder ändern. Wo ist das Problem?!

Doch man muss nur die Entwicklungen der letzten 40 Jahre betrachten, um zu sehen, wie falsch ihre Wahrnehmung ist. Wir gehen zurück zum Abbau des Wohlfahrtsstaats unter Margaret Thatcher und blicken genauer auf die politischen Rahmenbedingungen.

Unter Thatchers Führung stellten die Tories ab 1979 die Regierung. Die verstaatlichte Wirtschaft war ineffizient, viele Konservative wollten Unternehmen privatisieren, theoretisch. Doch ihnen war bewusst, dass die Bürger ihren Wohlfahrtsstaat mochten. Labour und Gewerkschaften würden gegen ihre Pläne mobil machen. Bei der nächsten Wahl wäre eine herbe Niederlage wahrscheinlich gewesen. Eine sozialistische Regierung würde all ihre Vorhaben rückgängig machen. Die Tories setzten ihre Pläne nicht um.

Doch Anfang der 1980er Jahre änderte sich die Lage. In der Labour Party standen sich verschiedene Gruppen unversöhnlich gegenüber. Es ging um Antisemitismus, militante Tendenzen und um Europa. Vielen Sozialisten war die Europäische Gemeinschaft mit ihren wirtschaftsliberalen Ideen ein Dorn im Auge. Einige der führenden Mitglieder stiegen aus und gründeten eine neue Partei, die Social Democratic Party (SDP). Wie der Name vermuten lässt, orientierten sie sich an anderen sozialdemokratischen Organisationen in Europa, allen voran der SPD. Die Sozialisten verblieben in Old Labour.

Die Auswirkungen auf die Mehrheitsverhältnisse im Unterhaus waren katastrophal. Bei der Wahl 1983 verlor Labour fast ein Drittel seiner Stimmen und landete bei unter 28 Prozent. SDP und Liberals traten gemeinsam an, fanden die Unterstützung jener Wähler, die Labour den Rücken gekehrt hatten, und erhielten über 25 Prozent. Die Konservativen vereinten 42,9 Prozent der Stimmen auf sich, ein halbes Prozent weniger als zuvor. Aufgrund der Spaltung des linken Lagers bauten sie ihre Mehrheit im Unterhaus jedoch von 53,4 auf 61,1 Prozent aus.

Trotz des Desasters standen sich Labour und SDP unversöhnlich gegenüber. Bei der nächsten Wahl bzw. Wahlen würde die Unterhausmehrheit mit großer Wahrscheinlichkeit wieder an die Tories gehen. (was auch geschah). Und auch die Gewerkschaften waren inzwischen zerstritten. Unter diesen Umständen konnten die Tories den Umbau Großbritanniens in einen neoliberalen Staat beginnen. Die Wirtschaft deindustrialisierte sich radikal, der Dienstleistungssektor, vor allem die Finanzindustrie, wurde zum dominierenden Faktor.

Ende der 1980er fusionierten SDP und Liberals zu einer neuen Partei, den Liberal Democrats. Die neuen Liberalen etablierten sich als starke dritte Kraft, ohne je eine angemessene Zahl an MPs zu stellen. Labour dümpelte einige Jahre träge vor sich hin. Erst mit der Wahlniederlage von 1992 wurden die Stimmen lauter, der Partei eine neue Richtung zu geben. Zwei Jahre später übernahm Tony Blair die Führung und stieß weitreichende Reformen an. Labour verabschiedete sich von Verstaatlichungen und wendete sich der Marktwirtschaft zu. New Labour war nun ebenfalls eine sozialdemokratische Partei, wenn nicht noch mehr nach rechts gedriftet. 1997 konnte man sich grandios gegen eine ermüdete konservative Partei durchsetzen. New Labour gewann über 43 Prozent der Stimmen und mehr als 63 Prozent(!) der Sitze im Unterhaus. An der neoliberalen Ausrichtung Großbritanniens änderte sich kaum etwas. Das alte Großbritannien war schon viel zu lange Geschichte.

Man kann gewiss stundenlang darüber diskutieren, wie weit im Vereinigten Königreich der 1980er Jahre Veränderungen nötig waren. Aber ein Umbau, ausgeführt von nur einer Partei, ohne jemals durch eine Mehrheit der Stimmen gedeckt zu werden, ist doch fragwürdig, oder?

Doch es sieht so aus, als hielten es die meisten Briten wie die Mehrheit unserer Freunde: Einparteienregierungen sind toll. Dementsprechend groß war die „Krise“ nach der Unterhauswahl von 2010. Die Tories gewannen die Wahl, errangen aber nur 47 Prozent der Sitze (mit 36 Prozent der Stimmen). Um eine Regierung bilden zu können, mussten sie eine Koalition mit den LibDems eingehen. Fun fact: Es war die einzige Nachkriegsregierung, die eine Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnte.

Der Zwang zur Koalition war Ausdruck der Erosion der großen Parteien. Ging die Ära der Alleinregierungen ihrem Ende entgegen? Speziell bei den Konservativen waren Sorgen angebracht. 13 Jahre hatte Labour regiert, war bei jeder Wahl schwächer geworden, und nun unter die 30-Prozent-Marke gerutscht. Trotzdem waren die Tories nicht stark genug, um alleine zu regieren?!

In den folgenden Jahren nahmen die Bedenken bezüglich der eigenen Regierungsfähigkeit noch zu. Das hatte jedoch nichts mit der Koalition zu tun. Die LibDems verfügten über keinerlei Regierungserfahrung und wurden von den Konservativen an die Wand gespielt. Der kleine Koalitionspartner stürzte in Umfragen massiv ab.

Doch Anfang der 2010er tobte die europäische Schuldenkrise. Griechenland, Irland, Spanien und Portugal mussten vom Euro-Rettungsschirm Gebrauch machen, der internationale Währungsfonds half mit Krediten. Die EU gab in den Augen vieler Briten keine gute Figur ab. Fälschlich glaubten viele, ihre Steuergelder würden genutzt, um griechische Schulden zu bezahlen. Gleichzeitig sahen sie ihre Jobs durch die offene Grenze mit der EU und durch europäische Einwanderer bedroht. Schließlich spürten die Briten selbst die Auswirkungen der Finanzkrise. Die neue Regierung kürzte ihr Budget drastisch zusammen, bekam ihr Schuldenproblem trotzdem nicht in den Griff.

David Cameron, Premierminister und Parteichef der Tories, stand vor einem gewaltigen Problem. War die Partei einst Heimat der EU-Befürworter, wuchs seit Margaret Thatchers Zeiten die Zahl der konservativen EU-Skeptiker.

2011 musste das Unterhaus aufgrund einer Petition über ein Brexit-Referendum abstimmen. Die Vorgabe der großen Parteien an ihre Abgeordneten lautete, gegen das Referendum zu stimmen. Die MPs lehnten ein solches mit 483 zu 111 Stimmen ab. Unter den Befürwortern waren jedoch 81 Abweichler der Tories. Die Abgeordneten rebellierten, die britische EU-Mitgliedschaft spaltete die Partei.

Und am rechten Rand gewann eine lange unbedeutende Gruppierung mit ihrer Brexit-Forderung an Zustimmung, die UK Independence Party, kurz UKIP. Bei der Europawahl von 2014 wurde die Partei von Nigel Farage mit 27 Prozent der Stimmen stärkste Kraft. In Großbritannien war die Wahl vor allem eine Protestwahl. Auf nationaler ebene war UKIP bei Umfragen weit von 27 Prozent entfernt, aber selbst wenige Prozent an Wählerstimmen könnten aufgrund das Wahlsystems ausreichen, und die Konservativen hätten massiv Sitze im Unterhaus verloren. Nicht an UKIP sondern an die nächst-stärkere Partei: Labour. Daher war es fast noch schlimmer, dass zwei konservative MPs ihre Parteizugehörigkeit wechselten und nun für UKIP im Unterhaus saßen.

Lief es für die Konservativen schlecht, würde sich UKIP als vierte nationale Kraft etablieren. Die Tories wären in einer verzwickten Situation. Bei einer Ausrichtung nach rechts könnten Labour und andere Parteien die Mitte besetzten. Würden sie sich jedoch an der politischen Mitte orientieren, stände UKIP bereit, verärgerte konservative Wähler aufzunehmen. Das rechte Lager wäre gespalten. So oder so wäre die Regierungsfähigkeit der Tories in Frage gestellt.

Liefe es für die Konservativen katastrophal, würde sich die Partei selbst spalten, wie Labour in den 1980ern. UKIP könnte die Abtrünnigen aufnehmen und die führende Position im rechten Lager anstreben. Nicht nur eine Kontrolle über die gesellschaftliche Entwicklung wäre dauerhaft gefährdet, vielleicht wäre sogar die Existenz der Partei in Frage gestellt.

Cameron musste etwas unternehmen, die nächste Unterhauswahl war kaum ein Jahr entfernt. So versprach er bei einem Wahlsieg der Tories eine Volksabstimmung über einen EU-Austritt anzusetzen.

Von einem gewissen Standpunkt aus, war das Versprechen genial. Die konservative Partei war vorerst geeint. Wer vom rechten Rand aus der EU austreten wollte, wählte besser die Tories als UKIP. Mit dem Referendum vor Augen konnte man der EU weitere britische Sonderrechte abpressen. Und mit einem Volksentscheid pro EU würde dem ganzen Spuk schnell die Luft ausgehen, UKIP verschwände im Kuriositätenkabinett der Geschichte

Tatsächlich gewannen die Konservativen Wahl, und stellten die Mehrheit der MPs im Unterhaus, wenn auch nur knapp, mit 50,8 Prozent der Sitze. Die Union gewährte weitere Sonderrechte, unter anderem die Möglichkeit, den heimischen Arbeitsmarkt für eine begrenzte Zeit von EU-Einwanderern abzuschotten. Und nach dem Referendum verschwand UKIP in der Bedeutungslosigkeit. Einziges Problem: Obwohl es in Umfragen lange nach einem Sieg für das Lager der Remainer aussah, stimmte eine kleine Mehrheit für den Brexit.

Cameron hatte die Zukunft des Landes aufs Spiel gesetzt, um seine Partei zu retten und doppelt verloren. Der Sieg der Brexiteers spaltete die Konservativen stärker als je zuvor. Und die Zukunft Großbritanniens sah um einiges düsterer aus. Schlimmer noch, in der Phase der Neupositionierung verblieb das Vereinigte Königreich in Geiselhaft parteiinterner Kämpfe.

Natürlich ist das folgende Chaos, etwas das Verfehlen einer Mehrheit im Parlament von Theresa Mays Brexit Deal, nicht alleine mit diesen Auseinandersetzungen zu erklären, aber sie spielten eine gewichtige Rolle. Dazu kamen die Schwächen des Systems, sowie Inkompetenz und Skrupellosigkeit der handelnden Personen. Mehr zu diesen im nächsten Post.



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[1] Wie in Großbritannien benötigt eine deutsche Regierung nur eine Mehrheit im Parlament, dort sind aufgrund der 5-Prozent-Hürde einige Stimmen nicht vertreten.

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