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  • AutorenbildAndreas Eich

Großbritanniens demokratisches System hält nicht modernen Standards stand– Einleitung & Historie

Aktualisiert: 24. Okt. 2023

Blicke ich auf meine bisherigen Posts zurück, hat Großbritannien mit mehreren großen Krisen zu kämpfen. Durch die niedrigen Gehälter und hohen Lebenshaltungskosten schlittern immer mehr Briten in Armut, besonders wenn sie eine Familie gründen. Ein besserer Bildungsabschuss erhöht die Chancen auf einen Job mit höherem Gehalt. Doch sind Universitäten inzwischen durch hohe Studiengebühren Teil des Problems. Das Ergebnis – Ausbildungsqualität und Gehalt – ist vergleichsweise bescheiden. Es gibt Bildungs- und Karrierepfade, die zu wesentlich einer wesentlich besseren finanziellen Absicherung führen. Doch für eine realistische Chance ist der Besuch einer Elite-Universität und damit zuvor der Besuch einer renommierten Privatschule nötig. Wobei letztere Jahresgebühren im Rahmen von typischen Durchschnittsgehältern verlangen, will sagen, sie stehen praktisch nur dem überaus kleinen und reichen Teil der Bevölkerung offen. Die Gesellschaft spaltet sich immer mehr.


St. James Palace, ehemaliger Hauptwohnsitz enlischer und britischer Monarchen


Dazu kommen mehrere Krisen des Staates: Seit der Finanzkrise übersteigen die Ausgaben, die Einnahmen bei weitem, trotz aller Mühen die Schulden einzugrenzen, etwa durch Einsparungen bei Gesundheit, Bildung und Sozialem. Die aktuelle Riege der Politiker begeht Fehler, die ihre Vorgänger bereits begangen haben, z.B. beim Thema Einwanderung. Hier zeigt sich die allgemeine Inkompetenz besonders, Resultat des schlechten Bildungssystems. Ebenso wie im öffentlichen Gesundheitssystem, welches nicht nur unter den Einsparungen leidet, sondern auch unter Mängeln auf administrativer und fachlicher Ebene.

All die Krisen zu bewältigen, ist nicht einfach. Selbst mit den richtigen Maßnahmen, würde es Jahre - wenn nicht Jahrzehnte - dauern und den Briten viel abverlangen. Doch mein Eindruck ist, die Probleme werden entweder nicht angegangen oder die Ansätze zu ihrer Bewältigung sind (offensichtlich) grundlegend falsch.

Da frage ich mich warum niemand einen wirklichen Wechsel einleiten will. Klar, den gab es, mit dem EU-Austritt. Doch die EU ist kaum für die genannten Krisen des Landes verantwortlich. Hier schlug mal wieder der Mangel an Bildung und Kompetenz, inklusive einer verzerrten Selbstwahrnehmung, zu. Bei Wählern und Wahlkämpfern. Gibt es wirklich keine fähigen Politiker? Gibt es niemanden, der die Probleme erkennt, die richtigen Lösungsansätze parat hat und diese auch kompetent nach außen vertreten kann, um damit Wahlen zu gewinnen und einen britischen(!) Wechsel einzuleiten?

Sind diese Politiker nicht vorhanden oder liegt es am System? Oder an beidem? In den nächsten Beiträgen möchte ich mich diesen Fragen widmen, angefangen hier und jetzt mit dem politischen System. (Spoiler: Es liegt an beidem, und zwar gewaltig)

Bevor ich richtig einsteige, lassen sie mich für den besseren Vergleich ein paar allgemein akzeptierte moderne demokratische Standards herleiten.

Eine Gesellschaft, egal in welcher Form, funktioniert nur, wenn die Gruppen in ihr miteinander und nicht gegeneinander arbeiten. In einer Diktatur wird die Zusammenarbeit durch Repression erreicht. Wer sich nicht an Vorgaben des Regimes hält, wird verfolgt, inhaftiert oder gar getötet. Eine Demokratie kann so natürlich nicht funktionieren. Gemeinsame Regeln müssen von allen Gruppen aus freien Stücken akzeptiert werden. Ein Dilemma, denn zählt ein Volk mehr als eine Handvoll Mitglieder, werden sich die Bürger kaum bei allen Regeln des Zusammenlebens einstimmig einigen können. Die praktische Lösung ist der Rückgriff auf Mehrheitsentscheidungen.

Doch bis zu welchem Punkt? Darf eine Mehrheit, und seien es nur 51 Prozent, Regeln aufstellen, welche die Interessen der Minderheit komplett ignorieren? Darf sie die Rechte kleinerer Gruppen einschränken? Darf sie die Grundsätze der Entscheidungsfindung ändern und so ihre Macht festigen? Nein, auch eine Mehrheit muss Rechte und Interessen der Minderheit bis zu einem bestimmten Grad respektieren. Ansonsten droht eine „Diktatur der Mehrheit“, die schnell in einer richtigen Diktatur enden kann.

Um dieses Abdriften zu verhindern ist das Herzstück einer modernen Demokratie ihre Verfassung. Diese legt die Basisregeln der Gesellschaft fest, definiert und garantiert Grundrechte der Bürger, die Staatsform und die Institutionen. In Deutschland sind etwa Grundrechte und Staatsform in Verfassungsartikeln gesichert, die nicht änderbar sind. Weitere Grundlagen sind in Artikeln beschrieben die nur mit Zweidrittel-Mehrheiten geändert werden können. Es benötigt also einen großen Konsens in der Bevölkerung bzw. zwischen verschiedenen Gruppen/Parteien, um die Grundfesten unserer Gesellschaft anzupassen.

Eine weitere Maßnahme, um einer Diktatur der Mehrheit entgegen zu wirken und den Dialog bzw. Ausgleich zwischen verschiedenen Gruppen zu fördern, ist die Aufteilung der Legislative auf verschiedene Einrichtungen. In den USA ist etwa die Macht Gesetze zu erlassen auf drei demokratisch gewählte Institutionen verteilt: Das Repräsentantenhaus, den Senat und den Präsidenten. In Deutschland auf Bundestag und Bundesrat. In anderen modernen Demokratien gibt es ähnliche Aufteilungen. Je wichtiger die Gesetze, desto mehr Institutionen müssen ihnen zustimmen und desto größer müssen die Mehrheiten in diesen sein. In der Regel verfügen unterschiedliche Parteien über die Mehrheit in den verschiedenen Institutionen. Das System zwingt sie zu Dialog und Zusammenarbeit.

Kurz gesagt, die meisten Winkelzüge moderner Demokratien sind darauf ausgelegt, den Dilemmata, die mit Mehrheitsentscheidungen einhergehen, Rechnung zu tragen. Um die Rechte aller zu schützen und die Interessen von möglichst vielen Gruppen zu berücksichtigen. Dialogue is King.

Und wie sieht es nun in Großbritannien aus? Kurz gesagt es gibt weder eine Verfassung noch eine Aufteilung der legislativen Macht. Das heißt eigentlich gibt es letztere schon, aber nicht praktisch… es ist kompliziert.

Das heutige politische System Großbritanniens hat sich über mehrere Jahrhunderte organisch ohne große Einschnitte entwickelt. Es gab keine Revolutionen bei denen Altes weggeworfen wurde, um Neuem Platz zu machen. Viele Anpassungen ergaben zu ihrer Zeit Sinn, doch führten sie zu einem System, das sich heute selbst widerspricht, und bestimmt nicht modernen Standards standhält. Dazu ist es absurd kompliziert.

Um es überhaupt verstehen zu können, ist es nötig, den groben Wandel über die Jahrhunderte nachzuvollziehen. Fangen wir mit diesem an.

Nach all der Meckerei zunächst etwas positives: Die Briten hatten oft eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung von Bürgerrechten und demokratischen Institutionen inne. Angefangen bei der Magna Carta, den frühen Parlamenten Londons und Englands oder dem progressiven Schutz von Privateigentum im 18. Jahrhundert. England, bzw. das Vereinigte Königreich, haben Standards gesetzt.

Aber wie beschrieben, gehört die Ausarbeitung einer Verfassung nicht dazu. Zumindest gibt es kein abgeschlossenes, übersichtliches Dokument. Das britische Verfassungsrecht besteht aus normalen Gesetzen, Gewohnheitsrecht und Common Law. Letzteres bedeutet, dass neben Gesetzen richterliche Urteile (Präzedenzfälle) den Rahmen des Rechts vorgeben. Gewohnheitsrecht leitet sich aus etablierten Verhaltensweisen ab.

Die Grundfesten bestehen mindestens seit der Glorious Revolution von 1688/89. Der Monarch war und ist wie in den Jahrhunderten davor Ursprung aller Macht, exekutive Gewalt und Staatsoberhaupt, aber der Souverän ist er nur im Verbund mit Ober- und Unterhaus. Gemeinsam bilden sie das Parliament. Damit sei gleich herausgestellt: Bis heute ist das Volk nicht der Souverän.

Dem Parliament fällt die legislative Gewalt zu. Die Aufspaltung in zwei Kammern und Krone beteiligte zu Beginn die drei relevanten Gruppen der Gesellschaft an ihrer Gestaltung. Neben der Herrscherfamilie wurden mit dem Oberhaus, bzw. House of Lords, Adel und anglikanische Kirche einbezogen. Das Unterhaus, bzw. House of Commons, repräsentiert die einfachen Bürger.

Diese Aufteilung der Legislative hört sich nicht nur ungemein modern an, das Westminster-System ist das Vorbild dem alle modernen Demokratien mehr oder weniger folgen.

Allerdings war im englisch/britischen System die einzige legislative Institution, mit halbwegs demokratisch legitimierter Zusammensetzung das Unterhaus. Halbwegs, denn zu Beginn waren nur Männer mit einem bestimmten Vermögen wahlberechtigt.

Bei einer Revolution wie sie die Amerikaner vollzogen, hätten die Briten wohl das Wahlrecht ausgeweitet, und die beiden anderen Teile des Parliament demokratisiert. Aus dem König wäre ein Präsident geworden, aus dem House of Lords eine Kammer ähnlich dem Senat.

Doch die Briten kamen wie gesagt ohne (weitere) Umstürze aus. Sie veränderten ihr System auf zivilisierte Weise durch eine Reihe an Reformen. Eigentlich vorbildlich. Und das Fehlen einer Verfassung war dabei sogar von Vorteil.

Die Wahlrechtsreform für das Unterhaus von 1832 ist ein gutes Beispiel. Während des 18. Jahrhunderts begann die industrielle Revolution. Zuvor kam der Landwirtschaft eine herausragende ökonomische Rolle zu und verhalf dem Adel zu großer Macht. Mit dem wirtschaftlichen Wandel nahm jedoch die Bedeutung von Warenproduktion und Handel immer mehr zu. Die ökonomische und politische Bedeutung von Städten wuchs rasant. Manche Großstädte des 19. Jahrhunderts waren 100 Jahre zuvor Dörfer gewesen. Andere Landstriche wurden entvölkert. Bis auf vereinzelte Ausnahmen waren die Wahlkreise jedoch nie angepasst worden. Bedeutende Städte wurden von einem oder gar keinem Abgeordneten im Unterhaus repräsentiert, ausgedünnte Regionen mit einer Handvoll Wählern entsendenden derer zwei. Mandate auf dem Land wurden teilweise an den Höchstbietenden verkauft, oder Wähler und Abgeordnete standen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem lokalen Adeligen.

Im Bürgertum gab es mehrere Bewegungen, um Veränderungen anzustoßen. Doch trotz massiven Drucks von der Straße stemmte sich das House of Lords lange gegen eine Reform der Wahlbezirke (und eine Erweiterung des Wahlrechts). Die Adeligen wollten ihren Einfluss im Unterhaus nicht verlieren, auch oder gerade weil ihre ökonomische Bedeutung drastisch gesunken war. Erst durch Druck des Königs wurde ihr Widerstand gebrochen. King William IV. teilte mit, er könne so viele neue Adelstitel an Unterstützer einer Reform vergeben, bis eine Mehrheit im Oberhaus sichergestellt sei. Die Drohung reichte, um die Lords einschwenken zu lassen.

In der Folge war die Macht des Adels nicht nur durch die veränderte Zusammensetzung im Unterhaus eingeschränkt. Es war klar, dass sie mehr Einfluss verlieren würden, wenn sie sich allzu oft den Anliegen des Bürgertums bzw. des Unterhauses entgegenstellten. Wurde eine Entscheidung des House of Commons von einer großen öffentlichen Mehrheit unterstützt, leistete das Oberhaus für gewöhnlich keinen Widerstand.

Ein weiteres Beispiel ist die veränderte Rolle der Krone in der Exekutive. Die Monarchen gaben langsam die Leitung der Regierungsgeschäfte ab. Schon in den Jahrhunderten vor der Glorious Revolution gab es chief minister, die immer mal wieder im Auftrag der Krone der Regierung vorstanden, inoffiziell. Ab dem 18. Jahrhundert wurde die Leitung dauerhaft einem prime minister übergeben. Zunächst wieder inoffiziell und ohne diesen mit den weitreichenden Befugnissen eines modernen Regierungschefs auszustatten, etwa andere Minister ein oder absetzen zu können. Doch mit der Zeit formte sich das moderne Amt. Formell anerkannt wurde der Posten erst um das Jahr 1900. Wann genau ist schwer zu sagen. Die erste Erwähnung auf einem offiziellen Dokument findet sich auf dem Vertrag von Berlin (1878). In die protokollarische Rangordnung des Königreiches wurde der Titel jedoch erst 1905 aufgenommen.

Anfangs wurden meist Lords zum Regierungschef bestimmt, nach 1902 fiel die Wahl fast immer auf den Leader of the House of Commons, dem Mehrheitsführer im Unterhaus. Eine feste Vorschrift war das zuerst nicht. Doch als George V. 1923 die Wahl zwischen den Leadern beider Kammern hatte, entschied er sich aufgrund der “Anforderungen der Zeit“ für den Mehrheitsführer des Unterhauses, und schuf damit eine Art Präzedenzfall.

1963 trat Premierminister Macmillan aufgrund einer Krankheit zurück. Nach längerem Hickhack um seine Nachfolge, bei keinem der drei ursprünglichen Kandidaten zeichnete sich eine klare Unterstützung innerhalb der regierenden konservativen Partei ab, stellte sich Lord Home für das Amt zur Verfügung und wurde von Queen Elizabeth II. mit der Regierungsbildung beauftragt. Vier Tage später legte er seinen Adelstitel ab, einige Wochen danach konnte er über eine Nachwahl zu einem frei gewordenen Sitz ins Unterhaus einziehen und Mehrheitsführer werden.

Denn der Premierminister ist immer Mehrheitsführer im Unterhaus. So wie es den Anforderungen der Zeit entspricht und inzwischen vom Gewohnheitsrecht vorgeschrieben wurde, irgendwie.

Die genannten Beispiele sind typisch für die Transformation des politischen Systems: Die Machtverhältnisse im Land änderten sich. Ohne Verfassung ist das System flexibel genug, um seine Strukturen anzupassen. Widerstände mochte es geben, sie wurden jedoch nicht durch starke konstitutionelle Vorgaben gestützt. Manche Veränderungen wurden durch Gesetze festgeschrieben, andere ergaben sich durch den freiwilligen Verzicht, der nach einer Weile zur Gewohnheit wurde. Manchmal wurden sie später in Gesetzesform gegossen, manchmal nicht.

Krone und Adel verloren so zwar immer mehr an Einfluss, aber sie und ihre Institutionen bestanden weiter, ohne ersetzt zu werden. Damit gibt heute nicht nur keine Verfassung, auch die institutionelle Teilung der Legislative ist verschwunden.


Weitere Details zum heutigen politischen System Großbritanniens beleuchte ich in meinem nächsten Beitrag genauer.



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